Der Flug der Weihnachtsgans
Weihnachten. Silbrige, glitzernde Lametta Streifen bedecken unseren gesamten Baum. Wo kein Lametta ist, legen sich Kugeln und elektrische Kerzen über das Grün. Warum wählt man einen echten, grünen Baum, wenn man ihn für unfeierlich und derart verbesserungswürdig hält? Statt einer Antwort ruft mich die Gans aus meinen Gedanken. "Hmm, wie das duftet," sagt wer wie jedes Jahr. Ich nicke, setze mich auf den Platz vom letzten Jahr, lächle meine Serviette in Falten über meinen Schoß. Heute sage ich es, heute lasse ich sie fliegen. Die Weihnachtsgans. Mein Vater zerteilt den massigen Vogel mit der geübten Routine aus 46 Weihnachtsgans-Massakern. Mutter hebt Keule und Brust mit Grandezza auf blütenweiße Teller, die sich ihr entgegen strecken. Nur meiner will sich nicht heben. "Was ist?" "Für mich nicht," höre ich mich sagen. Stille. Eiskalte Stille weht vom Lametta herüber. Ich bekomme Gänsehaut. Was sonst. Ich erhebe mich ein wenig. "Um genau zu sein, hasse ich Gans. Schon immer ... dieses ganze ... Gänsefleisch ... Gänsehaut ... Gänsefett ... Gänse-Fettsoße, Gänse-Fettaugen." Mit jedem Wort werde ich lauter, um die Stille um mich herum zu füllen. Sechs Augenpaare starren mich an. Mein Vater lässt die Gabel fallen, meine Schwester senkt den Blick, meine Mutter hebt das Servierbesteck. Ich werde enterbt. Soviel ist sicher. "Aber warum? Warum hast du das nie gesagt?" flehen Mutters Augen nach Antwort. "Ich wollte kein Gansverderber sein," antworte ich kleinlaut, "weil euch allen ja soviel daran liegt." "Bist du etwa so ein Vegetarier oder Veganer geworden?" befürchtet mein Vater jetzt schon das Schlimmste. Meine Schwester hebt den Kopf. "Vorwurf" steht auf ihrer Stirn. "Warum jetzt? Das hättest du ruhig noch ein paar Jahre ... für ... ," wandert ihr Blick zu den Eltern. "Wieso für uns? Für mich muss niemand ... diese blöde Gans...," nimmt Mutters Gesicht beunruhigend schnell die rötliche Farbe der Gänseschenkel an. "Ich brauche keine Weihnachtsgans und schon gar nicht die ganze Gottverdammte Arbeit damit." Vaters Messer fällt in slow motion neben seine Gabel: "Aber du wolltest diese Gans doch immer ... du musstest doch diese dämliche Gans Jahr für Jahr nach dem unantastbaren, heiligen Rezept deiner Mutter, Großmutter und Ururur...." "Was? Ich?" - Für dich, für euch, hab ich das ... mir hängt das ganze Gans-Gestopfe, Ganz-Geschmorre, Gans-Gepinsele, Gans-Gerede schon lange sowas zum Hals raus," steigt ihm Mutter ins Wort. "Ach, und damit kommst du jetzt! Nach 46 Jahren! 46 Jahre lang Gans, Gans, Gans! Gans die keiner will, nach einem Rezept das keinem schmeckt. Warum? Warum, verdammt nochmal?!" "Weil ich dachte, ihr ... ," sagen und denken alle im Chor. Da liegt es nun vor uns auf dem Tisch - das gelüftete Familiengeheimnis. Als Beilage neben einer kalten Gans. Stille Nacht, heilige Nacht. Ich genieße die Stille noch ein wenig. Dann stehe ich auf: "Ich mach dann mal ein paar Würstchen warm."