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Das Leben ist (k)ein Kindergeburtstag…

Ich gebe es zu, es ist ohnehin nicht zu leugnen. Bevor ich Werbetexter wurde, interessierte ich mich auch für andere Religionen. Ja, ich studierte sie sogar. In jahrelangen Selbstversuchen und schliesslich an der Uni. Am Ende einer dieser langen Tage in einem Hörsaal, der aus einem einzigen Stück Beton gegossen war, ergab ich mich meiner Müdigkeit. Legte den Kopf in den warmen Schoß meiner Nachbarin, einer mässig attraktiven Sonderpädagogin, und träumte. Mit schnellen, selbstverliebten Schritten sah ich mich zum Rednerpult schreiten. Klopf, klopf. Das Mikrofon kreischte eine ausgewachsene Rückkoppelung in den Raum. 186 Hände griffen sich an die Ohren. Ich nickte. Sanft, wissend, mitfühlend. Die Gewissheit, dass mein Nicken sass, durchströmte mich. Nicht umsonst war „spirituelles Nicken“ eines meiner Hauptfächer im Grundstudium gewesen. Ich hatte es darin zur wahren Meisterschaft gebracht: Die Bewegung – fast unmerklich, locker aus dem musculus sternocleidomastoideus heraus (dt.: großer Kopfwender). Der Kopf – in leichter, linksgewandter Schräglage (den genauen Winkel offenbare ich nur in Form eines kostenpflichtigen downloads). Der Ausdruck – eine exakt gelächelte Formel aus Sanftmut, Liebe, Mitgefühl, Verbundenheit und Allwissenheit (video download ebenfalls auf Anfrage). „Willkommen.“ Als sich meine Studenten erhoben, bemerkte ich ihre hellgelben Gewänder. Auf der linken Brust ein Logo. Tatsächlich waren das meine Inititialen. Ich nickte noch einmal. „Das Geheimnis der universellen Liebe hat seinen Ausgang in einem gelungenen Kindergeburtstag. Immer.“ 93 Fragezeichen starrten mich schweigend an. „Nehmen wir Jesus …,“ fuhr ich fort: „Er hatte Glück. Denn ihm wurde etwas zuteil, was keinem von uns je widerfahren ist. Schon in der Stunde seiner Geburt durfte er den perfekten Kindergeburtstag feiern. Die Engel sangen, Könige brachten Geschenke dar, alle Kreaturen huldigten ihm. Mit einem solchen Start kommt man nicht ins Zweifeln. Mit einer solchen Stunde Null geht man liebend durch das Leben. Mit dem sicheren Gefühl, Gottes Sohn zu sein, wirst du nicht in der Schule verhauen. Denn du könntest es ja deinem Vater sagen. Als Gottes Sohn bekommst du jeden Tisch, ohne Reservierung, sogar auf der Terasse, mit Blick auf den See Genezareth. Und deine leiblichen Eltern? – Sie werden es nicht wagen, dir die alte irdische Botschaft mit auf den Weg zu geben: „Du kannst nichts, bist nichts, musst dir jedes kleine Stückchen Liebe erst verdienen.“ – Nein, sie werden dich als Geschenk behandeln. Sie werden dich loben… für alles, dich lieben… grenzenlos, für dich da sein… immer. Und du selbst wirst es ihnen gleich tun: du wirst gut für dich sorgen und dein Leben stets mit Sinnvollem füllen. Ja, … dieses große Glück des perfekten Kindergeburtstages … es wurde Jesus zuteil. Und machte ihn zu dem, der er war,“ endete ich und nickte. „Aber sind wir nicht alle Kinder Gottes?“, erhob sich eine blutjunge, blonde Studentin zaghaft aus der Menge. Ich legte meinen Kopf erneut nach links: „Natürlich sind wir das (an ihr fiel es mir gerade besonders auf). Aber leider hat keiner von uns je die Gnade empfangen, einen solchen Kindergeburtstag wie Jesus zu feiern. Deswegen müssen wir uns selbst für Kinder Gottes halten und jeden Tag hart daran arbeiten, dass wir es auch glauben können.“ Ich sah, dass sie ihren Frieden mit meiner Botschaft schloss, aber etwas weiter hinten im Raum noch eine weitere Frage schwebte. Sie materialisierte sich in Form eines dicken, bebrillten Altstudenten: „Aber so gut hatte es Jesus dann doch nicht, schliesslich wurde er ja ans Kreuz genagelt?“ „Das ist wahr…,“ entgegnete ich, „… aber eine ganz andere Geschichte, sie beginnt mit: „Neid“.


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