Eigentlich...
Eigentlich wollte ich gestern abend gar nichts tun. Oder etwas in der Art wie gar nichts. Wie Fernsehen oder aus dem Fenster sehen. Auf dem Weg zum Kühlschrank stolperte ich über ein Wort. Das lag da einfach so rum. Mitten im Weg. Ich hatte es wohl vor kurzem benutzt und offenbar nicht wieder zurückgelegt. Nachdem ich mein schmerzendes Knie gerieben hatte, hob ich es auf und schaute es an. „Eigentlich.“ Seltsames Wort. So ganz für sich allein sah es irgendwie jämmerlich aus, fast bedeutungslos. Obwohl seine Länge recht stattlich war. Je mehr ich es anschaute, umso weniger konnte ich mit ihm anfangen. Doch was macht man mit Worten, die wie ein fremder, dicker Kater nutzlos im Weg rumliegen? Gibt es Wortheime für sie? Wo man sie abgeben kann? In der Hoffnung, dass sie ein neues Herrchen oder Frauchen finden? Oder ihr Gnadenbrot? Ich beschloss, mich schlau zu machen. Kurz darauf nahm ich den Zug nach Mannheim. Ab 18:45 Hamburg Dammtor, an 23:41 Mannheim Hbf. Mit dem Taxi waren es nur wenige Minuten, dann stand ich vor dem IDS (Institut für Deutsche Sprache). Die Eingangstür war verschlossen, es gab nicht einmal eine Wortklappe, in die ich mein „eigentlich“ hätte einwerfen können. Ich schlich um das Gebäude und entdeckte nach wenigen Minuten ein Fenster im Hochparterre, hinter dem das bläuliche Licht eines kleinen Fernsehers flackerte. Ich rief. Rief noch einmal. Diesmal ein wenig lauter. Endlich erschien eine Gestalt am Fenster. Es war ein Fragezeichen in einer Nachtwächter-Uniform. Als es das Fenster öffnete und sich dabei ein wenig aufrichtete, konnte ich erahnen, dass es in jungen Jahren ein Ausrufezeichen gewesen war. „Was gibt´s?!“, brüllte es mit größtmöglicher Unfreundlichkeit in meine Richtung. „Ein „eigentlich“, ich brauche es nicht mehr, hab keinen Platz mehr dafür in meinem Leben, möchte es zurückgeben,“ rief ich leiser, als ich es vorgehabt hatte. Das Fragezeichen runzelte die Stirn. „Ein „eigentlich“ zurückgeben? Mann, was ist das denn für ein Quatsch?! Wissen sie überhaupt, welchen Wert das hat?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ein „eigentlich“ – das können sie teuer verkaufen oder verschenken, aber doch nicht zurückgeben!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Was ist es denn für eins?“, schien sich das Fragezeichen jetzt doch für eine Rücknahme zu interessieren, verschwand vom Fenster und trat kurz darauf aus der Tür. „Aus Stein gemeißelt? Aus Holz? Oder Papier? Wachs oder Butter? Oder nur Tinte? “ Das plötzliche Interesse des Fragezeichens machte mich unsicher, ich hielt mein „eigentlich“ nun hinter meinem Rücken versteckt. „Ich sage ihnen was, junger Mann. In den letzten Jahren ist uns nicht ein „eigentlich“ zurückgekommen. Im Gegenteil, wir kommen gar nicht nach. Die Nachfrage ist gewaltig, obwohl sie sich sogar vermehren. Wie die Karnickel.“ Ich musste ungläubig geschaut haben, denn das Fragezeichen fuhr ungebremst fort. „Früher hatte es noch ein paar natürliche Feinde: Die Haltung. Die Entscheidung. Die Konsequenz. Doch die will keiner mehr haben. Kommen sie herein, ich zeig ihnen das Mal, unsere Räume sind bis unter die Decken voll davon.“ „Nein, danke…,“ ich schüttelte den Kopf, „… ich glaube es ihnen einfach so.“ Doch das Fragezeichen kam jetzt erst richtig in Schwung: „Letztes Jahr ist nur ein einziges „eigentlich“ gestorben, … war bei einer Hochzeit plötzlich aufgesprungen, um sich vor ein „Ja“ zu stellen. Der Vater der Braut, hat dann erst das „eigentlich“ und dann den Schwiegersohn…. na ja … keine schöne Geschichte…. . Und grad vor zwei Wochen, haben sie das gelesen? Bei der Durchsuchung…? Da haben sie Hunderte beschlagnahmt, der hat die gezüchtet. Im Anbau seiner Villa. Gezüchtet! Und von den Gewinnen hat der … . “ Das Fragezeichen redete noch weiter, als ich bereits wieder ins Taxi stieg. Wenig später sass ich im Speisewagen. Als der Kellner kam, bedeckte ich mein „eigentlich“ mit einem Winkel des Tischtuchs. „Ich hätte gern die Bayrischen Knödel mit Pfifferlingen, die von dem Sterne-Koch, der hier im Prospekt so nett lächelt.“ Der Kellner schüttelte den Kopf. „Eigentlich steht das zwar heute auf der Karte, ist aber nicht geliefert worden.“ „Ach, das tut mir leid, das wird dem netten Sterne-Koch dann sicher sehr unangehm sein,“ erwiderte ich betroffen. „Könnte ich Mal mit ihm sprechen?“ Der Kellner schüttelte erneut den Kopf. „Also, tja, es ist so… ,“ wand er sich hin und her, bis ihm endlich ein etwas rundliches „eigentlich“ zur Seite sprang. „Wissen Sie was…?,“ erlöste ich die beiden, „… ich mag sowieso keine Knödel. Ich nehm einfach die Gurkensuppe.“ Die beiden blickten erneut betreten drein. Also korrigierte ich mich noch einmal: „Ich nehm nichts. Einfach nur nichts. Wäre das machbar?“ Erleichterung machte sich breit. Die beiden nickten und verschwanden. Als der Zug um 5:57 Uhr in den Bahnhof Dammtor einfuhr, warf ich einen letzten Blick auf mein „eigentlich“, das auf dem roten Kunstledersitz neben mir schlummerte. „Hab keine Angst, du wirst es gut haben hier… , “ flüsterte ich. Dann stieg ich aus.